Trotzdem für Europa

Europavox Vienna 2018 (c) Aslan Kudrnofsky

Trotzdem für Europa

Zur 4. Ausgabe des Festivals Europavox Vienna im WUK

Anlässlich des Europavox Festivals plädiert Amira Ben Saoud dafür, Europa nicht zu verklären, sondern an Europa zu arbeiten, und wirft einen Blick auf das diesjährige Line-Up.

Irgendwie geht es ja immer um Sex, auch beim Gründen. Zumindest wenn Göttervater Zeus Teil der Story ist und das ist er ja oft genug. In dieser Geschichte verschaute er sich beim göttlichen Tindern in die fesche Königstochter Europa, die irgendwo am Strand des heutigen Libanon chillte. Per Superlike oder dergleichen offenbarte er sich ihr in Gestalt eines weißen Stieres (Tierfotos!) und auch Europa likte, was sie sah. Nach etwas Geplänkel setzte sie sich gleich beim ersten Date auf den Rücken des Stiers, der kurzerhand mit ihr davonschwamm und die junge Dame auf Kreta parkte. Dort ging es dann auch gleich zur Sache. Forthin hieß der Fleck Erde, der sich mit der Zeit vergrößern sollte, nach der White-Bull-affinen Schönheit, also Europa.

Europavox Vienna 2017 (c) Susanne Einzenberger
Europavox Vienna 2017 (c) Susanne Einzenberger

So erzählt es variantenreich der Mythos, was einem herzlich egal sein kann, aber nicht muss – provoziert die ganze Angelegenheit doch auch ein paar unangenehme Lesarten: Man könnte ja zum Beispiel meinen, dass es im Kern des Gründungsmythos von Europa um das Ausnutzen von Machtverhältnissen, um Ausbeutung geht. Wie hätte die junge Europa zum alten, weißen Stier Nein sagen sollen? Man könnte auch interpretieren, dass unser schönes "Abendland" ohne eine Europa aus dem "Morgenland" gar nicht entstanden wäre – auch der Mythos selbst hat orientalische Vorbilder.

Nicht verklären, daran arbeiten!

Narrative, die Gemeinschaftsinn stiften sollen, basieren aber selten auf solchen Lesarten. Wir verbinden Europa mit den Werten der Europäischen Union wie der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, wir verbinden Europa mit Demokratie – wer hat’s erfunden? Die Griechen.

Zu Europäer_innen hat uns das Glück gemacht. Wir haben in der Lotterie gewonnen, weil wir hier geboren wurden. Aber Europäer_in zu sein bedeutet etwas anderes. Es bedeutet, die Werte, auf die wir so stolz sind, zu verteidigen, neue Werte für ein zukunftsreiches Europa zu entwickeln. Und es bedeutet, unseren Gemeinschaftssinn nicht nur über die Glanzstunden, sondern auch über die Schattenseiten zu definieren: Nicht nur der Mythos hat seine verstörenden Komponenten, die europäische Geschichte, auch die jüngere, ist voller Gewalt und Ungerechtigkeiten. Die hochgelobte Demokratie war in ihrer Geburtsstunde auf Ausschluss aufgebaut. Frauen, unter 30-Jährige, Zugezogene und Sklaven hatten damals in Attika überhaupt nichts zu melden. We’ve come a long way. Gerade deswegen sollten wir Europa nicht verklären, sondern an Europa arbeiten. Wir sollten aus dem Privileg, hier geboren zu sein, eine Verantwortung ableiten. Verbindendes kann erst dort entstehen, wo Differenzen erkannt werden, wo alles Schwierige und Problematische nicht geleugnet wird, wo man sich trotzdem für Europa entscheidet.

Europavox Vienna 2018 (c) Aslan Kudrnofsky

Ein Bekenntnis zu Europa

Die gute Nachricht: All das kann im Kleinen beginnen. Ein Bekenntnis zu Europa kann dabei anfangen, die Oma vom Wählen zu überzeugen, für das Klima auf die Straße zu gehen, eine_n Interrail-Reisende_n bei sich auf der Couch schlafen zu lassen.

Es kann sogar mit dem Besuch eines Musikfestivals beginnen. Das Europavox – der Name verrät es ja schon – würde sich dazu ganz gut eignen.

Europavox Vienna 2018 (c) Aslan Kudrnofsky

2006 wurde das pan-europäische Festival in Clermont-Ferrand gegründet, das den vielfältigen Sound of Europe abseits von Genre- und nationalen Grenzen feiert. Auch das WUK ist einer der Austragungsorte des Europavox – bereits zum vierten Mal findet das mittlerweile zweitägige Festival Europavox Vienna dort statt. Wien hat durch seine geografische Lage noch einmal eine besondere Rolle in Europa, oder könnte diese wahrnehmen – als Vermittlerin zwischen Osten und Westen. Es heißt ja nicht umsonst, dass der Balkan am Rennweg beginnt – so soll es Metternich zumindest einst gesagt haben.

Beste Mischung: Das Europavox Vienna 2019 im WUK

Das Boban Marković Orkestar wird es jedenfalls schon deswegen leicht haben, ganz Beč zu begeistern. Der Balkan-Brass-König kommt mit seinem Sohn, dem Thronfolger Marko Marković und dem ganzen Gefolge. Vater Marković ist eine Koryphäe an der Trompete, gewann mehrmals beim legendären Trompetenfestival in Guča, das übrigens auch unbedingt eine Reise wert ist, und spielte mit seinem Orkestar auch eine große Rolle in Emir Kusturicas preisgekröntem Film “Underground”. Es ist lebensbejahende Musik, die trotz so mancher verdrießlichen Lage ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern vermag.

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Auf Brass-Basis kommen auch Erwin & Edwin daher – allerdings mit einer gehörigen Portion Elektronik versetzt. Weil den Tanzbeinen hier ordentlich der Marsch geblasen wird, überhört man vielleicht, dass die mittlerweile fünfköpfige Formation durchaus gesellschaftskritisch reimt.

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Experimental-Rap-Fans von Acts wie clipping., den Swet Shop Boys oder JPEGMAFIA soltlen sich mit den Belgiern Run Sofa vertraut machen, die auch keine Angst vor surfy Gitarren haben und so zu einer ziemlich unbeschreiblich unerhörten Mischung kommen.

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Auch die beiden Wahlberliner Indie-Rockerinnen, Andreya Casablanca und Laura Lee, die zusammen das Duo GURR bilden, lieben die surfy Gitarren, wenn auch anders. Zwischen Grunge, Garage-Rock und Pop erzählen sie von den Großstadtabenteuern junger Frauen – und das ziemlich erfolgreich. Festivals wie das Rock am Ring oder Melt! wurden bereits bespielt und sogar überm großen Teich machten sich die Taubenverachterinnen als Vorband der Post-Punk-Band Priests einen Namen. Bevor das zweite Album kommen kann, wurde im April erst einmal die EP “She Says” nachgelegt, die es dann mutmaßlich auch live im WUK zu hören geben wird.

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Wie kratzt sie jetzt wieder die Zielkurve zu Griechenland? Ganz einfach mit Σtella. Die junge Indie-Popperin mit der zärtlich melancholischen Stimme und den wohligen Synths schreibt sich nicht nur zum Spaß mit Sigma, sondern kommt auch aus dem Land, dem wir die lustigen Zeichen, vulgo Alphabet, zu verdanken haben.

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Aber das war’s noch nicht mit Griechenland. Denn auch wenn es sich bei den Post-Punkern Lysistrata um ein französisches Trio handelt, haben sie ihren Namen dem antiken Komödiendichter Aristophanes zu verdanken. Beziehungsweise seinem gleichnamigen Werk. Um den Krieg zwischen Athen und Sparta zu beenden, beschließen die Frauen unter der Ägide von Lysistrata, nicht mehr mit ihren Männern zu schlafen, bis jene aufhören, sich gegenseitig abzumetzeln. Irgendwie geht es wirklich immer um Sex.

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Die vierte Ausgabe des Europavox Vienna findet am 7. und 8. November 2019 im WUK statt. 

Amira Ben Saoud hat klassische Philologie studiert und arbeitet als Kulturjournalistin mit Fokus Musik und Kunst in Wien.

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