Tierfiguren können sich immer mehr erlauben als Menschen

Vier Schauspieler_innen auf der Bühne in einer Reihe stehend, schwarzer Hintergrund.
(c) Anja Köhler

Tierfiguren können sich immer mehr erlauben als Menschen

Wie man Kindern vom Holocaust erzählt

Vier großartige Schauspieler_innen auf vier Barhockern genügen in Martin Brachvogels fesselnder Kindertheaterinszenierung „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ um vom Grauen des Holocaust und von den Grenzen der Anpassung zu erzählen.

Martin Brachvogel im Interview über seine fesselnde Kindertheater-Inszenierung

Was hat dich an der Textvorlage von Jens Raschke interessiert?

Der Text ist nichts weniger als ein Geniestreich. Raschke macht einfach alles richtig. Er nutzt historische Fakten und transformiert sie zu einer zeitlosen Fabel, z.B. gab es tatsächlich einen Zoo unmittelbar an dem Zaun des Konzentrationslagers Buchenwald für die SS-Angehörigen, aber auch für die Weimarer Bevölkerung. Das erzeugt einen Abstand, der es dem Publikum erlaubt, mehr in das Erzählte einzusteigen. Tierfiguren können sich immer mehr erlauben als Menschen.

Außerdem funktioniert das Stück multiperspektivisch, d.h. der Autor hat Erfahrungsebenen geschaffen, die Zuschauer_innen mit jedem Bildungsstand erlauben, das Geschehen aufzunehmen. So funktioniert das Stück auch für Menschen, die keinerlei Wissen über den Nationalsozialismus mitbringen. Auch sprachlich ist für jede und jeden etwas dabei, vorausgesetzt eine Grundkenntnis der deutschen Sprache ist vorhanden. Vordergründig wirken die Dialoge einfach gestrickt, aber dahinter steckt eine vielschichtige Sprachform, in die man beliebig tief einsteigen kann – wenn man möchte. Ähnlich hat auch Samuel Beckett gearbeitet.

Nicht zuletzt bin ich begeistert von Raschkes pädagogischem Ansatz. Hier geht es nicht um gut oder böse, um richtig oder falsch, sondern um Entscheidungswege – wie man sich für oder gegen etwas bekennt. Zu keinem Zeitpunkt wirkt das Stück belehrend. Es tut auch nicht so, als gäbe es den einen richtigen Weg, denn so einfach funktioniert das nicht in einem Alltag, der von so vielen Faktoren beeinflusst war – und bis heute ist.

Welche Ideen gab es diese epische Textvorlage umzusetzen?

Für mich bestimmt der Inhalt die Form, nicht umgekehrt. Bei jeder Vorlage stelle ich mir immer erneut die Frage: Welches Bühnenbild, welche Ausstattung hilft uns, den Inhalt zu vermitteln? Zu Beginn der Arbeit an dem Stück haben der Bühnenbildner Bernhard Bauer und ich verschiedene Bühnenbildansätze ausgearbeitet, z.B. einen überdimensionalen Schreibtisch, der für das hocheffiziente System des Nationalsozialismus stehen sollte. Auch ein großes realistisches Modell des Konzentrationslagers Buchenwald war angedacht. In den Proben gab es auch eine Phase, in der wir mehr oder weniger realistische Tierkostüme ausprobiert hatten. Nichts davon half dem Inhalt. Jede Gegenständlichkeit lenkte ab von der inneren Phantasie, dem „Kopfkino“ des Erzähltheaters. So reduzierte sich am Ende die Ausstattung auf vier Hocker und einen Teppich. Räume, Weite, Enge, auch Tageszeiten werden durch Lichtstimmungen erzeugt. Ähnlich reduziert ist auch die Musik von Robert Lepenik. Wir entwickelten gemeinsam Musikflächen, die das Publikum niemals in eine Gefühlsstimmung hineinmanipulieren, die immer in einer emotionalen Schwebe verharren, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, selbständig eine Haltung zu entwickeln.

Gruppenbild von "Follow the Rabbit" (eine Frau, drei Männer). Auf die Gesichter wurde mit schwarzen Stift Hasennasen, Hörner, Ohren etc. gemalt.
(c) Peter Manninger

Welchen Bezug siehst du zur heutigen Gegenwart und zur Erinnerungskultur?

„Was das Nashorn sah...“ markiert für mich einen Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Mit jeder neuen heranwachsenden Generation wird das Dritte Reich immer abstrakter. Es ähnelt mehr und mehr einer mythologischen Hölle voller böser Wesen und ihren Opfern statt einer Gesellschaft, in der Menschen wie ich und du gelebt haben. Jens Raschke arbeitet in seinem Stück weniger historische Fakten auf, sondern verhandelt vor allem die gesellschaftlichen Mechanismen dahinter. Dabei stehen die verschiedenen Tiere für menschliche Archetypen (Pavian: aktives Mitläufertum, Mufflon: passives Mitläufertum, Murmeltiermädchen: Ignoranz, Bär: aktive Opposition). Erinnerungskultur heute ist für mich nicht nur historisches Wissen, es geht auch um den Transfer in unseren Alltag. Die politische Gemengelage der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist unmöglich auf das Heute übertragbar, sehr wohl aber gesellschaftspolitische Verhaltensweisen. Angst vor dem sozialen Abstieg, Angst um den Verlust der eigenen kulturellen Identität, das Gefühl, nicht erhört zu werden, sind damals wie heute gültig. Es gilt zu begreifen, was die Menschen umtreibt. Das schützt vor politischer Manipulation und Instrumentalisierung und ermöglicht vielleicht sogar einen Dialog mit Leuten, die politisch ganz woanders stehen als man selbst. Mit Aufteilungen in gut und böse, in richtig und falsch ist uns nicht geholfen.

Zwei Schauspieler_innen mit Tiermasken (Löwe, Widder) auf der Bühne.
(c) Anja Köhler

Ist die Thematik des Holocaust zehnjährigen Kindern zumutbar?

Ich muss da widersprechen. Der Anlass für Jens Raschke, dieses Stück zu schreiben, mag die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gewesen sein, im Endergebnis ist er aber nicht vordergründiges Thema. Zu keinem Zeitpunkt fallen Begriffe wie „Holocaust“, „Konzentrationslager“, „Nationalsozialismus“ oder Ähnliches, was die Handlung örtlich oder zeitlich festlegen würde. Hier geht es ums Prinzip. Das macht die Inszenierung ja für so viele Altersgruppen rezipierbar! Zehnjährige sehen eine Geschichte von einem rebellischen Bären in einem Zoo neben einem schlimmen Gefängnis.

Für Menschen, die ein Wissen über den Nationalsozialismus mitbringen, sind die historischen Bezüge – auch die der Gräueltaten – klar erkennbar. Das ist übrigens ein weiterer Vorteil der reinen Erzähltheaterform: Das Maß des erfahrenen Schreckens hängt vom Erfahrungsschatz des Publikums ab. So nimmt die Inszenierung Erwachsene deutlich mehr mit als die Zehnjährigen, die niemals negativ bewegt oder gar verängstigt aus einer Aufführung gekommen sind. Vorlage und Umsetzung schützen sie davor.

Ihr spielt das Nashorn seit gut zwei Jahren in Österreich und Deutschland. Wie wichtig ist euch dieses Stück?

Meine Frau Nadja entdeckte die Vorlage kurz nach ihrer Veröffentlichung 2014 anlässlich des anstehenden 70. Jahrestages der Befreiung von Buchenwald. Wir waren beide begeistert von seiner neuen Form der Erinnerungsarbeit und wollten es deshalb produzieren. Inzwischen hat sich viel verändert in Europa. Zäune spielen wieder eine große Rolle, ideologische Fronten gehen durch Nationen und verhärten sich. Empathie, Differenzierung, faktenbasierte Argumente bilden sich zurück, stattdessen häufen sich grob-fahrlässige Pauschalisierungen, die sich aufgrund mangelnder Dialogbereitschaft und Faktenresistenz nicht aus dem Weg räumen lassen. Wenn sich diese Entwicklung weiter zuspitzt, steht das demokratische Gefüge zur Disposition. Genau davon handelt „Was das Nashorn sah...“. Es ist leider aktueller denn je.

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Martin Brachvogel lebt seit 18 Jahren in Graz – anfangs als Ensemblemitglied des Grazer Schauspielhaus, dann als Ko-Leiter des Theatervereins „Follow the Rabbit“, den er zusammen mit seiner Frau Nadja Brachvogel 2004 gründete. Seine letzte Inszenierung von Sergej Gößners „Mongos“ (ÖE im WUK 26. Mai 2018) wurde mit dem „STELLA18-Darstellender.Kunst.Preis für junges Publikum“ als bestes Jugendstück Österreichs ausgezeichnet.
 

Interview: Saskia Schlichting

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