Der eindimensionale Mensch wird 50

Die vier Künstler auf einer Terrasse stehend.
© Stefan Papst

Der eindimensionale Mensch wird 50

Gedanken zum Dagegensein im Wandel der Zeit & Mail-Interview mit Andreas Spechtl

Thomas Ebermann, Kristof Schreuf, Robert Stadlober und Andreas Spechtl diskutieren in einem Konzert-Theater im WUK, inwieweit Marcuses vor einem halben Jahrhundert entstandenes, systemkritisches Pamphlet nach wie vor Gültigkeit hat. Dabei wird das Werk anhand gegenwärtiger Fragen, Einsprüchen, Interpretationen und Songs erforscht.

Vor 50 Jahren erblickte „Der eindimensionale Mensch“ das Licht der Welt. Geboren wurde er 1964 in den USA, sein Vater war der deutsch-amerikanische Soziologe Herbert Marcuse. Erst drei Jahre später wurde er ins Deutsche übersetzt; der Untertitel der deutschen Ausgabe lautete „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“. Das Pamphlet lieferte einen wichtigen ideellen Grundstock für die 68er Bewegung, zum einen aufgrund der klaren Kapitalismuskritik. Zum anderen bietet Marcuse ein Gegenmodell, oder vielmehr die einzige Alternative, um dieser von der Obrigkeit (Staat, Exekutive, Massenmedien) ins Eindimensionale gepressten Gesellschaft zu entkommen. Fazit: „Der eindimensionale Mensch“ soll und muss verweigern. Marcuse liefert Ansätze, wie dies anzustellen sei. Es fallen Begriffe wie Phantasie und Hoffnung.

Wer heute, fünfzig Jahre später im Sommer 2014 „Der eindimensionale Mensch“ von Marcuse liest, wird verblüfft erkennen, dass dieses Werk nach einem halben Jahrhundert unter anderem aktueller – und akuter – ist, denn je. Nur ein Beispiel:

„Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses. (…) Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, dass sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, (…) selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstrationen für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, dass sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert. Nichts deutet darauf hin, dass es ein gutes Ende sein wird.“

(S. 267, Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Auflage 1994)

Die jüngsten Ereignisse in Wien zeigen, mit welcher Macht der Staat und seine Exekutive gegen diese im Sinne von Marcuses Verweigerung handelnden Menschen vorgehen können. Der deutsche Student Josef S., der aufgrund einer einzigen Zeugenaussage (die eines Polizisten) verurteilt wurde. Der Schweizer Sprayer Puber, der aufgrund simpler Graffiti-Tags auf Hausmauern eine härtere Geldstrafe erhielt als so mancher Finanzbetrüger. Oder die Pizzeria Anarchia, das besetzte Haus, welches mit einem nie da gewesenen  Aufgebot von 1700 Polizeibeamt_innen geräumt wurde.

Widerstand und Verweigerung sind auch 50 Jahre später gefragt und notwendig. Marcuses Beobachtungen zum „eindimensionalen Menschen“ sind nach wie vor relevant und bergen möglicherweise mehr als nur „subversives Potential“.

So sehen es auch die Popkulturarbeiter Thomas Ebermann (Publizist, unter anderem als Politiker tätig, Grüne), Kristof Schreuf (Hamburger Schule, Spex & taz), Robert Stadlober (Schauspieler & Co-Gründer von Siluh Records) und Andreas Spechtl (Ja, Panik). Sie prüfen den vor 50 Jahren erschienenen „Klassiker“ des Widerstands in einem Konzert-Theater auf seine Gültigkeit. Das Quartett verspricht einen Abend inszenierter Disharmonie mit Songs, die auf Passagen aus „Der eindimensionale Mensch“ basieren. Dabei rezitieren, dialogisieren und streiten sie, was das Zeug hält. Sie geben sich der Hoffnung hin, dass der Traum von der großen Verweigerung noch nicht ausgeträumt ist. Selbst Marcuse zeichnete Anfang der 1970er-Jahre in seinem Essay über die Befreiung einen Ausweg aus der „Hölle der Gesellschaft im Überfluss“. Wir wollten von Andreas Spechtl wissen, wie er persönlich zu Marcuse, zum Fortschritt, dem Dagegensein steht, und was zur Hölle eigentlich ein Musik-Theater ist…

Wäre Marcuse heute eher auf Facebook oder doch auf Twitter und was wären seine am meisten genutzten Hashtags?

Würde Napoleon heute die USA erobern, welche amerikanische Automarke würde er bevorzugen? Cabrio oder SUV?

Der eindimensionale Mensch müsse sich laut dem Ursprungswerk von 1964 durch Negation, durch die Große Verweigerung gegen das Gesellschaftssystem wehren. Kann man 50 Jahre später schicke Sneakers tragen (kaufen!), und trotzdem „dagegen“ sein? Gibt es on/off-Negationen?

Wenn wir nicht nackt durch diese Welt laufen wollen, bleibt uns wohl nichts anderes übrig. Ich glaube nicht an die besseren Produkte, schick oder hässlich, fair oder unfair, mit solchen Dinge sollte man sich besser gar nicht allzu sehr beschäftigen, man ist da gedanklich eigentlich in einer Einbahnstraße unterwegs. Ich kaufe auch brav Fairtrade Kaffee und Biokäse, aber unter dem Strich ist der kritische Konsument schon einer der lächerlichsten Auswüchse der modernen Welt, weil die Wahl, vor die er gestellt wird, an sich schon eine Farce ist. Ich sehe es so: mit Abstrichen sind eigentlich alle Sneakers gleich hässlich, die wirklich schicken Sneakers, die kennen wir noch gar nicht, die vermag erst eine befreite Gesellschaft herzustellen.

 Welche Eindimensionalität kannst du bei dir selber feststellen?

Gegenfrage: gibt es denn unterschiedliche Eindimensionalitäten?

Wogegen bist du derzeit am meisten, wogegen sollten wir alle sein?

Kritik ist keine Hitparade.

Wann warst du das letzte Mal im Theater?

Anfang des Jahres, bei Patrick Wengenroth´s Fassbinder Abend in der Schaubühne.

Warum ausgerechnet Musik-Theater?

Ich finde ja Musik-Theater Abende meistens schwierig, obwohl ich die Form eigentlich sehr spannend finde. Aber etwas zu machen bei dem es wahrscheinlicher ist zu scheitern als zu triumphieren, sich quasi immer wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen, finde ich eine sehr gute Art zu arbeiten. Es ist der einzige Weg sich vor Wiederholung zu schützen, im Leben wie in der Kunst.

Der eindimensionale Mensch wird 50

Ein Konzert-Theater mit Stadlober, Spechtl, Ebermann, Schreuf
Mi 15.10., 20 Uhr, Saal

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