"Die Jugendliteratur habe ich verpasst"

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"Die Jugendliteratur habe ich verpasst"

Trotzdem schreibt Thorsten Nesch preisgekrönte Jugendbücher

Der Autor ist zu Gast bei der Kinder- und Jugendliteraturwoche und hat vorab zusammengefasst, was ihm beim Schreiben wichtig ist, weshalb er erst als Erwachsender Jugendliteratur gelesen hat und wieso Lesungen vor Jugendlichen so viel Potential haben.

Seit 2008 leben wir als Familie von meinen Geschichten. Angefangen zu schreiben habe ich, als ich mit dem Spielen aufgehört hatte: Kurzgeschichten, Gedichte und irgendwann Romane. Allerdings keine Jugendromane und nie veröffentlicht, also unbezahlt. Mit meinem ersten Jugendroman „Joyride Ost“ (2010) änderte sich mein Leben. Ich brauchte nicht mehr jobben, um mir das Schreiben zu ermöglichen. Dabei hatte ich nie vorgehabt, einen Jugendroman zu schreiben. Bis dahin hatte ich noch nicht einmal einen gelesen!

In meiner Jugend bin ich von Comics direkt zu Erwachsenenromanen gesprungen. Ich glaube nicht, dass es damit etwas zu tun hat, dass es damals keine guten Jugendromane gegeben hat. Ich habe sie einfach nicht gefunden oder lange genug gesucht. Auf jeden Fall habe ich nach den Comics eine Menge sogenannter Schundliteratur, Groschenromane gelesen, geradezu verschlungen, mit 14 Jahren Stephen King, mit 15 „Der Pate“. Wow, von da an war es dann Erwachsenenliteratur. Als mir klar wurde, dass „Joyride Ost“ ein Jugendroman werden würde, musste ich erstmal recherchieren, lesen, welche es da so gibt. Braucht es überhaupt noch einen weiteren Jugendroman?

Nach 30 gelesenen Jugendromanen war ich von der Qualität überrascht, sah aber auch die Leerstelle, die „Joyride Ost“ füllen könnte. Niemals hätte ich mir damals träumen lassen, wie sehr ich Gefallen daran finden würde, Jugendromane zu schreiben. Warum? Als Jugendbuchautor besitzt man deutlich mehr Freiheit als in der Erwachsenenliteratur, deren Betrieb gerade im deutschsprachigen Raum reichlich eingefahren ist. Bestes Beispiel ist die Unterscheidung zwischen Unterhaltungsliteratur und Literatur. Ein unsägliches Phänomen im internationalen Vergleich.

Ich vertrete den Standpunkt, dass sowohl Geschichte als auch Sprache gleichermaßen wichtig sind. Damit stehe ich nicht in der Tradition der deutschen Literatur, wie mir mehrfach von Lektor_innen schriftlich bestätigt wurde, sondern eher in der Tradition international erfolgreicher Literatur, gerade aus dem englischsprachigen Bereich, zu der ich mich sehr hingezogen fühle, und die ich auch überwiegend lese.

Diese Freiheit, Romane sowohl interessant als auch lebendig und mit überzeugender Erzählstimme zu schreiben, kommt bei Jugendlichen an – das spüre ich vor allem bei meinen Lesungen. Auch liebe ich die direkte Art, das ehrliche Feedback, die offenen Fragen und die sich daraus entwickelnden Gespräche bei meinen mittlerweile über 1.000 Auftritten.

Genau in den Lesungen und ihrer Anzahl liegt übrigens auch der größte Unterschied zwischen Jugendliteratur und Kinderliteratur. Kolleg_innen, die Kinderliteratur schreiben, werden weitaus häufiger zu Lesungen eingeladen als Jugendbuchautor_innen. Selbstverständlich wünschte ich, dass dieses Verhältnis ausgeglichener wäre – natürlich nicht auf Kosten der Kinderliteratur, sondern im positiven Sinne für beide Gattungen. Ich glaube, gerade in einem jugendlichen Alter, wo es darum geht, sich seinen Talenten und Neigungen bewusst zu werden, sollte die Kunst und speziell das Geschichtenerzählen nicht unterschätzt werden. Ich für meinen Teil hatte damals keine Lesung besuchen können, weil nie Autor_innen an meiner Schule gelesen hatten. Hätte ich diese Möglichkeit gehabt, hätte mir einiges, was meine eigene Zukunft betrifft, vielleicht eher klar werden können.

Wie finde ich nun ein Thema für einen Jugendroman? Das ist so einfach wie schwierig: Ich nehme die beste Idee. Vor Beginn eines neuen Romans habe ich in der Regel über ein Jahr zwei bis drei Geschichten anrecherchiert (Stichworte geschrieben, Bücher gelesen, Sachbücher, Filme...); für die Auswahl ist dann auch mein Gefühl wichtig: Wonach fühle ich mich die nächsten drei Monate? Denn so lange dauert in der Regel die erste Fassung eines Romans. Das kann dann ein Erwachsenenroman sein oder ein Jugendroman, lustig oder ernst, ich schränke mich nicht ein, die beste Idee zählt. Welche Geschichte möchte, ja, muss erzählt werden? Das ist die Frage.

Ich denke, gerade aus dieser ehrlichen, persönlichen Herangehensweise ergeben sich Geschichten und Romanfiguren, denen Leser_innen im Allgemeinen (ganz gleich welchen Alters) gerne und mit Spannung folgen. Ein anderer wichtiger Pfeiler ist die Erzählstimme, welche die Person klar definiert, und wenn es die Hauptfigur ist, dann sicher in ihrem Leben verankert.

Die Erzählstimmen unterscheiden sich bei mir von Roman zu Roman derart, dass ich jedem sage, man sollte jeden Roman von mir zumindest angelesen haben, bevor man sich für ihn entscheidet. Es gibt nicht „den Thorsten Nesch“ – ich bin viele Erzählstimmen.

Ein_e fünfzehnjährige_r Erzähler_in hört sich anders an als ein_e Achtzehnjährige_r oder gar ein_e Vierzigjährige_r. Sind sie lustig drauf, oder hat ihre Geschichte tragische Elemente? Stammen sie von Professoreneltern ab oder von Schulabbrecher_innen? Das alles beeinflusst die Erzählstimme sehr stark. Außerdem zeigt diese Aufzählung, wie unterschiedlich meine Geschichten sind und ihre Einordnung: Jugendroman, Erwachsenenroman oder New Adult/junge Erwachsene – das Alter zwischen 16 und 21 (soweit ich weiß).

Mir ist zwar keine Statistik bekannt, aber immer wieder höre ich, dass Jugendliche weniger lesen. Das mag sein, denn konkurrierende Freizeitaktivitäten werden seit dem Internet und den Computern nicht weniger und uninteressanter, aber es hängt auch damit zusammen, dass die Jugendlichen von guten Geschichten erfahren müssen. Aus meiner Sicht eignen sich dafür immer weniger die klassischen Wege. Und so möchte ich die Frage am Ende aufwerfen: Warum gibt es kein Productplacement für Jugendliteratur in Filmen und Computerspielen? Es reicht ja, wenn mein Roman auf dem Armaturenbrett eines Porsche Bi-Turbo bei „Need For Speed“ liegt – man muss wegen ihm ja nicht gleich das Rennen gewinnen!

Thorsten Nesch wurde 1968 in Solingen geboren und lebt seit 2004 in Leverkusen. Sein erster Roman „Joyride Ost“ war als Bestes Deutschsprachiges Jugendbuchdebüt nominiert und gewann 2012 den Hans-im-Glück-Preis.

Kinder- und Jugendliteraturwoche

Thorsten Nesch liest aus seinem neuen Buch „Buster, König der Sunshine Coast“ (14+):

Mi 8.10., 9.30 Uhr, Museum
Do 9.10., 15 Uhr, Museum
Fr 10.10., 9.30 Uhr, Museum

Dauer: 60 Min. Anmeldung: kinderkultur@wuk.at

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