Ein ganz neues Theatererlebnis.
Bei Familiodrom ist das Publikum dazu eingeladen gemeinsam ein Kind zu erziehen. Wie ist diese Idee entstanden?
Till Müller-Klug: Bestimmt auch, weil wir selbst Eltern geworden sind. Die zweite Inspirationsquelle war Rousseaus Buch „Émile oder Über die Erziehung“. Er unternimmt darin das leicht größenwahnsinnige Gedankenexperiment, ein fiktives Kind großzuziehen, das fanden wir spannend. Und der nächste Schritt war dann, dieses Experiment gemeinsam mit dem Publikum zu probieren. Daran interessiert uns auch die Verfremdung: nicht mehr eine klassische Kernfamilie entscheidet und diskutiert über Erziehungsfragen, sondern das ganze Publikum. Also verschiedene Leute, die sich untereinander vielleicht gar nicht kennen. Das eröffnet dann auch eine weitere, politische Dimension.
Künstlerisch bewegt ihr euch im Feld des immersiven Theaters. Was interessiert euch an dieser Möglichkeit der direkten Publikumsbeteiligung?
Till Müller-Klug: Sie ist unberechenbar. Wir können uns jeden Abend aufs Neue überraschen lassen. Wir können das Publikum als Mikrogesellschaft erleben und mit ihm gemeinsam verschiedene Szenarien austesten. Beim Thema Erziehung ist das besonders spannend, weil die Meinungen da so stark auseinander gehen.
Wie können wir uns den Probenprozess bei einer immersiven Performance vorstellen, die noch dazu rein virtuell über die Plattform Zoom gespielt wird?
Till Müller-Klug: Bei unseren partizipativen Stücken ist es immer entscheidend, sich beim Proben in die Rolle des Publikums hineinzuversetzen. Also war es in diesem Fall wichtig, die Proben ausschließlich am Computer zu verfolgen, so wie später das Publikum. Dafür sind wir dann immer mit dem Laptop in der Hand aus dem Theaterraum in die Garderobe geflüchtet. Wir wollten kein abgefilmtes Theater, sondern von vorneherein mit der besonderen digitalen Aufführungssituation spielen. Der technische Aufwand ist dabei ziemlich hoch, wir entwickeln z.B. für die meisten unserer Stücke eine eigene Software. Das füllt einen großen Teil der Probenzeit, wobei wir auch vor Corona schon viel mit digitaler Technik gearbeitet haben. Darauf können wir jetzt gut aufbauen.
Für uns stehen analoges und digitales Theater nicht in Konkurrenz zueinander. Beide bieten einzigartige Möglichkeiten und wir erproben mit Interrobang neue Wege und Formate der Verknüpfung.
Was bedeutet es für euch derzeit nur digital vor Publikum spielen zu können?
Till Müller-Klug: Für uns war und ist es ein großer künstlerischer Entwicklungsschub. Wir haben im letzten Jahr viele neue Formate entwickelt, auch Hybrid-Formate, wo analoges und digitales Theater sich begegnen. Im Herbst hatten wir mit unserer Performance „Emocracy“ ein digitales Gastspiel in Moskau. Dort konnte sich damals noch ein Publikum mit Abstandsregeln versammeln und wir waren von Berlin aus per Videoscreen zugeschaltet und haben mit dem Moskauer Publikum live interagiert. Das hat sich erstaunlicherweise fast so angefühlt, als wäre man zusammen in einem Raum. Ein ganz neues Theatererlebnis. Und jetzt spielen wir „Familiodrom“ in Wien und Erlangen gleichzeitig. So ein Simultangastspiel haben wir auch noch nie gemacht und sind sehr gespannt darauf.