Lob der Langeweile. Mehr oder weniger.

Kind vor einem Gartenzaun, spielt als würde es reiten. Gegenlicht.
© Lotus Carroll

Lob der Langeweile. Mehr oder weniger.

Ewiger Begleiter, Statussymbol und Motor

Kinder sind die ungekrönten König_innen der Langeweile. Kaum fällt die Autotür ins Schloss, kaum klickt der Sicherheitsgurt, startet der Motor... schon klingt es von der Rückbank: „Papa, mir ist langweilig... was soll ich maaaachen?“

Dieselbe Situation nach Ablauf der genehmigten Fernsehzeit. Kaum erlischt der Bildschirm, klärt sich der zombiegleiche Blick und gewöhnt sich an die ungewohnte dreidimensionale Umgebung... schon ertönt der klägliche Hilferuf: „Mir ist faaaad... was kann ich machen?“

Nun sind diese Sätze in der heutigen Zeit nicht notwendigerweise eins zu eins zu nehmen. Oft enthalten sie vielmehr einen mehr oder weniger subtilen Subtext. Im ersteren, automobilen Fall bedeuten sie etwa: „Darf ich mit meinem Nintendo/meinem Handy/deinem Handy spielen?“ Im zweiten häuslichen Fall: „Darf ich nicht doch noch fernsehen?“ und wenn schon nicht das, dann „Darf ich statt dem Fernsehen Nintendo/meinem/deinem Handy spielen…“
Dieser nur marginal verborgene Subtext ist auch der Grund, weshalb mehr oder weniger originelle, pädagogische oder soziale Vorschläge zur Beendigung des nackten Grauens namens Langeweile – wie „Schau doch aus dem Fenster. Soll ich das Autoradio einschalten? Erzähl mir was!“ beziehungsweise „Du könntest ja ein Buch lesen. Mach was mit deinem/n Geschwister/n!“ – selten bis nie mit freudiger Dankbarkeit zur Kenntnis genommen werden. Eher nie.

© Andy Carter

Fade Kindheit

Abgesehen davon, Kinder reagieren wirklich besonders sensibel, was Langwelle betrifft. Vielleicht auch deswegen, weil sie tatsächlich sehr viel damit konfrontiert sind. Eine Freundin, die eines Tages bei ihrem alten Lehrer an einigen Unterrichtsstunden teilnahm, berichtetet, dass sie ganz vergessen hatte, wie unfassbar nervtötend langweilig der größte Teil so einer Schulstunde, ja, eines Schultages doch ist. Beschäftigungslose Nachmittage und Wochenenden der Kindheit waren und sind ebenfalls durch elendslange Perioden an grauer Masse von Langeweile bestimmt. Man kann eben nicht immer jemanden treffen, einen Kurs besuchen, oder etwas Aufregendes erleben. Und dazwischen ist es eben oft einfach... fad. In Internetforen, in denen sich Erwachsene gerne darüber aufregen, dass die Kinder von heute nur vor dem Fernseher sitzen, im Internet surfen oder mit ihrem Smartphone herumtun, tauchen gelegentlich recht vernünftige Gegenstimmen auf. Sie weisen darauf hin, dass wir Älteren uns alle zehn Finger nach diesen Möglichkeiten abgeschleckt hätten, um unsere eigene Kindheit – noch dazu am Land – nicht in so lähmender Langeweile verbringen zu müssen. In echt. Denn, um nur ein Beispiel zu nennen, wieso sonst hätten wir heute 50-jährigen uns als Kinder in Ermangelung anderer Möglichkeiten im ORF sogar den „Seniorenclub“ angeschaut? Oder „Wer bastelt mit?“

Das Problem der Langeweile begleitet die Menschheit schon immer, sie ist keine evolutionäre Errungenschaft. Im Laufe der Geschichte hat sich nicht die Tatsache der, sondern nur unser Umgang mit der Langweile geändert. Der Mensch erfand Spiele, Musik, Sport, Malen, Theater und andere nicht dem unmittelbaren Überleben dienende Beschäftigungen, um als aktive Betreiber_innen oder passive Konsument_innen einen Teil der Lebenszeit herumzubringen.

Produktive Langeweile

Zu gewissen Zeiten und in bestimmten sozialen Schichten galt Langeweile sogar als Statussymbol. Wer für sein Überleben schuften musste, hatte keine Zeit für Langeweile (selbst wenn die notwendige Tätigkeit langweilig sein mochte). Die davon nicht Abhängigen hegten und pflegten dagegen ihr Nichtstun und gaben ihm schöne Namen. Was im Italienischen als „dolce fa niente“ noch relativ erstrebenswert klingt, bekommt im Französischen als „ennui“ bereits einen Drall ins Melancholische, ja, Depressive. Die französische Literatur (und nicht nur die) ist voll von sich langweilenden Menschen und deren brutaler oder tragischer Flucht aus derselben. Die britische Aristokratie wiederum fand einen besonders originellen Ausweg aus ihrer oft erdrückenden Langeweile. Sie erdachte reihenweise die kompliziertesten und unmöglichsten Spiele der Welt: Spiele mit Regeln, die Außenstehenden auch nach Jahrzehnten noch unverständlich bleiben müssen (wie etwa Cricket oder Bridge). Spiele, die darin bestehen, per se fast unlösbare Aufgaben zu lösen, wie etwa einen winzigen Ball in ein kleines Loch zu befördern das hunderte Meter weit entfernt ist (und ja, ich weiß, dass dieses spezielle Sport aus Schottland stammt).

Tatsächlich, um das jetzt einmal positiv zu sehen, nichts stachelt die Kreativität und den Erfindungsgeist der Menschen so sehr an wie Langeweile. Was uns wieder zurück zu den Kindern bringt. Kinder sind nicht nur in der Lage, Langeweile bereits in Spurenelementen, ja geradezu feinstofflicher Konsistenz wahrzunehmen und zu massiver tonnenschwerer Masse zu verdichten, sie sind auch in der Lage, aus dem Rohstoff Langeweile Ideen und Spaß zu generieren! Ein Kind in einem leeren Raum mit, sagen wir, einem Stock wird zuerst schmollen... um dann die Situation in eine Zauberwelt aus Kreativität zu verwandeln. Es wird den Stock balancieren, darauf reiten, Luftgitarre spielen oder einen ganzen Fantasy-Epos um das magische Schwert des verschollenen Thronfolgers erfinden.

Und nehmen wir noch einmal die beiden oben genannten Beispiele Auto und TV-Ende. Vorschläge, siehe oben, werden nichts nützen, das Gemaule lässt sich nicht verhindern. Da muss man als Elternteil durch. Doch Geduld zahlt sich aus. Im Auto etwa wird aus Langweile oft ganz schnell ein Zählspiel mit vorbeifahrenden Motorrädern oder neue, tatsächlich spannende Erkenntnisse über die Musterung der Autositze, Wortspiele, Fingerspiele… Und lässt man die Brut nach dem abgeschalteten TV-Gerät ihren Unmut ausdampfen, wird man mehr als einmal mit einer kleinen Modeschau, einem selbst gezeichneten Comic oder einem aus allen Bestandteilen des Kinderzimmers bestehenden Hindernisparcours belohnt.
Und auch Erwachsene können das, wenn wir auch vielleicht ein wenig eingerostet sind. Vielleicht sollten wir gelegentlich den Kreativitätsmuskel „Langeweile“ trainieren, statt uns automatisch in die immer zahlreicheren und leichter verfügbaren Ablenkungen zu stürzen.

Nur so eine Idee.

Harald Havas ist Autor, Gelegenheitszeichner, Vortragender, Moderator, Übersetzer, Ausstellungsmacher u.v.m.

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