„Wer bin ich denn überhaupt?“

Eine Frau sitzt in der Wüste

„Wer bin ich denn überhaupt?“

Gesellschaftliche Teilhabe beginnt für Autist_innen oftmals mit der richtigen Diagnose

Autist_innen sind heute in den Medien sichtbarer als noch vor einigen Jahren. Trotzdem halten sich Stereotype und Vorurteile über Autismus. Das ist ein Nachteil für Autist_innen – insbesondere am Arbeitsmarkt.

„There is beauty in the way I think“, sagt Stand-Up-Comedian Hannah Gadsby in their Show „Douglas“, nachdem they sich öffentlich auf der Bühne geoutet hat: Hannah Gadsby ist Autist_in. Die Diagnose hat Gadsby mit 39 bekommen, erst Zuschauer_innen haben Gadsby auf den Verdacht gebracht. Denn Autismus war für Gadsby zuvor männlich konnotiert.

Autismus – das ist so viel mehr als die Vorstellung des „empathielosen Autisten mit Inselbegabung“. Vor allem ist Autismus ein Spektrum: Bereiche wie Kommunikation, Verhaltensweisen, Wahrnehmung und Interessen können bei jeder autistischen Person unterschiedlich ausgeprägt sein. So unterschiedlich, dass Autist_innen gern die Aussage zitieren: „Kennst du eine autistische Person, dann kennst du eine autistische Person.“ Es gibt Autist_innen, die für die Alltagsbewältigung viel Unterstützung benötigen, genauso wie die, die kaum Unterstützungsbedarf haben oder ihre autistischen Eigenschaften kaschieren können – und damit vergleichsweise unsichtbar sind. Vielen Autist_innen fehlt es nicht an Empathie, sie sind im Gegenteil hyperempathisch. Manche haben durch ärztliche Begutachtung einen bestimmten Grad der Behinderung zugesprochen bekommen, andere nicht, doch alle Autist_innen stoßen in einem nicht-autistischen Umfeld auf Barrieren: das ungefilterte Einprasseln von Reizen wie Licht, Hintergrundgeräuschen oder Gerüchen, unlogisch scheinende oder nicht explizit ausgesprochene soziale Normen, unklare Kommunikation und Abläufe oder fehlende Rückzugsräume können es Autist_innen schwer machen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.

Richtige Diagnostik schafft Identität

Internationalen Schätzungen zufolge leben in Österreich ca. 90.000 Autist_innen, viele von ihnen aber ohne entsprechende Diagnose. Dies auch deshalb, weil die (geschlechtlich binäre) Autismus-Forschung jahrzehntelang vorwiegend Männer im Blick hatte. Das stereotype, männliche Bild von Autismus schadet all jenen, deren Charakteristiken sich anders zeigen. Heute weiß man: Die angenommene Geschlechtsverteilung von 4:1 war falsch, Autismus bei Mädchen/Frauen war bislang schlicht unterdiagnostiziert. Studien zeigen neben dem sexistischen Bias in der Autismus-Diagnostik auch einen rassistischen: Schwarze Menschen, indigene Menschen und People of Color sind unterdiagnostiziert.

Für Hannah Gadsby hat nach der späten Autismus-Diagnose die verwirrende Welt endlich Sinn ergeben. Gadsby teilt damit einen Wendepunkt im Leben all jener Autist_innen, die sich jahrzehntelang bemüht haben, den Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen. Dieses „Masking“ kann schwere Auswirkungen haben, erklärt Sabine Koch, Leiterin des neuen Angebots WUK aut.fit: „Autist_innen haben einen hohen Anspruch an sich selbst, sind perfektionistisch. Sie müssen lernen, auf ihre eigenen Signale und Grenzen zu achten, was für sie zu viel ist.“ Wenn die Erwartungen von außen zu hoch sind und Autist_innen zu wenig Regenerationsphasen haben, könne das zum sogenannten autistischen Burn-out führen, einem chronischen Erschöpfungszustand. Und noch etwas müssen Autist_innen nach jahrelangem Maskieren lernen: „Wer bin ich denn eigentlich?“ sei eine zentrale Frage für spät diagnostizierte Autist_innen, so Koch.

Inklusion braucht viel Unterstützung und weniger Vorbehalte

Bereits seit den 1990er-Jahren kämpfen Autist_innen für das Anerkennen neurologischer Vielfalt, für die Rechte von behinderten Menschen, für Entstigmatisierung, Antidiskriminierung und Gleichberechtigung. Doch gesamtgesellschaftlich fehlt es immer noch an Wissen über Autismus, was zu Vorbehalten und fehlender Unterstützung führen kann. Sabine Koch begleitet Autist_innen auf dem Weg ins Berufsleben und unterstützt gleichzeitig ihre Arbeitgeber_innen. Zwar erkennen immer mehr Firmen, dass Autist_innen wertvolle Mitarbeiter_innen sind, so Koch. Damit Autist_innen gut arbeiten können, sei es aber wichtig, dass die Rahmenbedingungen gut zur jeweiligen Person passen. Und es braucht Aufklärung im Arbeitsumfeld, um Missverständnissen vorzubeugen. „Mein Appell an die Firmen ist: Traut euch! Macht die Türen auf, gebt den Leuten eine Chance! Autist_innen sind pflichtbewusste, motivierte, loyale Mitarbeiter_innen“, so die Psychotherapeutin. „Macht es ihnen nicht so schwer. Gönnt ihnen, vielleicht mit Sonnenbrille vorm Computer zu sitzen, remote zu arbeiten oder flexiblere Arbeitszeiten zu haben, falls die Öffi-Benützung schwierig ist.“ Autist_innen werde ohnehin so viel abverlangt, sie würden täglich kognitive Höchstleistungen erbringen, um im Alltag funktionieren zu können. „Für Firmen gibt es viel Unterstützung, wenn sie Autist_innen einstellen“, erklärt Koch.

Text: Bettina Enzenhofer

Bettina Enzenhofer hat das feministische Online-Gesundheitsmagazin „Our Bodies“ gegründet. ourbodies.at

WUK aut.fit

Anfang Jänner eröffnet mit WUK aut.fit ein bislang einzigartiges Kompetenzzentrum für Autismus, Beruf und Bildung. Das vom Sozialministeriumservice finanzierte Angebot umfasst arbeitsmarktorientierte Beratung, intensives Coaching, Workshops und Kurse, Training on the job sowie Sozialarbeit und richtet sich an 15- bis 34-jährige Autist_innen.

Mehr auf autfit.wuk.at

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