Raum für komplexere motorische Gestaltungen
In deinem neuen Stück Merce 2-for-7 lässt du dich von Merce Cunningham inspirieren. Wie stellst du dich diesem Thema?
Elio Gervasi: Ich will kein Revival von Cunningham choreographieren, sondern lasse seine Arbeit, die die zeitgenössische Avantgarde stark beeinflusst hat, in unser Projekt einfließen. Er hat sehr unterschiedliche, zur seiner Zeit völlig verrückte Experimente auf die Beine gestellt. Und Tänzer_innen haben ihm getraut, weil er ihnen kompromisslos einen Weg gezeigt hat. Wir wollen diese Energie auf uns wirken lassen. Wir übernehmen die Arbeitsweise von Cunningham, indem wir die zur Verfügung stehenden Materialien zusammen wirken lassen: Körper, ein Objekt, ein weißer Tanzteppich, Licht, Kostüme, Musik und die individuellen Geschichten der Tänzer_innen.
Zu Cunninghams Zeit spielte die konzeptuelle Begründung, die Vermittlung einer Essenz von Tanz durch Worte, keine so grosse Rolle. Sein Tanz war pures Experiment.
Was ist dein persönlicher Bezug zu Merce Cunningham?
Elio Gervasi: Er war für mich die Inspiration, die große Erfahrung, die meine 50 jährige Arbeit mit Tanz beeinflusst hat. Ich habe in Rom von ihm Unterricht bekommen. Ein Mal habe ich bei einer Generalprobe zugeschaut. Und dann habe ich bei der Premiere bemerkt, dass sie neu und ganz anders war als die Probe. Dieses Erlebnis hat mich stark beeindruckt. Die Formen des Körpers wurden von ihm in eine neue Beziehung zur Schwerkraft gesetzt. Seine Technik hat die klassischen Formen in eine innovative Dimension vorangetrieben.
Wie verbindest du die spezielle Technik, die Merce Cunningham entwickelt hat, mit dem Stand deiner jetzigen Arbeit?
Elio Gervasi: Wir lassen die Ästhetik Cunninghams in den kreativen Prozess einfliessen und lassen in den choreographische Strukturen Raum für komplexere motorische Gestaltungen. Die motorische Sprache der Tänzer_innen heutzutage ist natürlich artikulierter und vielfältiger als in der Zeit Cunninghams. Die Tänzer_innen, mit denen ich arbeite, bringen in den Prozess die Vielschichtigkeit ihrer eigenen körperlichen Erfahrungen ein. Viele meiner Tänzer_innen haben überhaupt keine Kenntnis von Merce Cunninghams Technik. So beginnt einen Entdeckungsreise, die uns die essenziellen Eigenschaften dieser Technik neu sehen und erleben lässt. Und in einem weiteren Schritt dazubringt, dass wir Verbindungen zur Gegewart herstellen und die Bedeutung erforschen, die sie für uns heutzutage haben kann.
Cunningham Technik wird oft als altmodisch bezeichnet. Ich glaube aber, dass der Begriff “altmodisch” im Tanz nicht viel bringt. Für mich ist Cunningham Technik eine der Materien, die mir der kreative Prozess zu Verfügung stellt, die ich verwenden, konzeptualisieren und valorisieren kann.