Platz nehmen!
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Plätze sind Spiegel gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Wer und was, wo und wie Platz hat, ist eine andauernde Verteilungsfrage, die von jeder Generation aufs Neue verhandelt wird.
Städtebaulich ist die Sache klar: Ein Platz ist eine von Gebäuden umbaute, freie Fläche, ein öffentlicher Knotenpunkt für das städtische Leben. Seit der griechischen Agora wird am Platz Macht demonstriert und diskutiert, mit Waren gehandelt und gefeiert. Als im Mittelalter die gottgegebene Ständeordnung aus Klerus, Adel und Bauern langsam durchlässiger wird und Kaufleute und Handwerker durch zunehmenden Reichtum Macht erlangen, zeigt sich das auch auf den Plätzen: Am Marktplatz trifft und organisiert sich die neue Klasse, der Rathausplatz verweist auf die zunehmende bürgerliche Macht der Städte, und der Kirchplatz wird zum religiösen und sozialen Treffpunkt. Während die Exklusivmacht von Kirche und Adel im Barock real langsam bröckelt, wird die gesellschaftliche Bedeutung durch die Inszenierung großflächiger, streng symmetrisch geordneter Plätze mit Monumentalbauten betont, wie am Petersplatz in Rom oder am Place Vendôme in Paris. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist es dann endgültig vorbei mit der alten Ordnung auf den Plätzen der Stadt: Das enorme Wachstum erfordert einen radikalen Umbau der Stadtstruktur und neue Verkehrswege wie die Wiener Ringstraße oder die Pariser Boulevards unter Haussmann dienen der Repräsentation der neuen Machtverhältnisse zwischen Wirtschaft und Herrschaft ebenso wie der militärischen Kontrolle gegen Aufstände. Neue Parks entstehen und die Plätze der Stadt werden auch in Wien zunehmend funktional getrennt gedacht: Als Verkehrsknotenpunkt wie der Praterstern, für Märkte zur Versorgung der Bevölkerung wie der Naschmarkt oder zur Repräsentation mit Rathaus, Theatern und Museen entlang der Ringstraße.

Macht Platz!
Bis heute bilden die Plätze der Stadt symbolisch aufgeladene Orte für gesellschaftliche Veränderung: Wer den Platz einnimmt, stellt die Machtfrage. In der weltweiten Demokratiebewegung der 2010er Jahre wurde die Besetzung zentraler Plätze zum grenzüberschreitenden und verbindenden Erkennungszeichen: Vom Tahrir-Platz in Kairo, über den Syntagma-Platz in Athen und dem Taksim-Platz in Istanbul, vom Puerta del Sol in Madrid bis zum Maidan Nesaleschnosti in Kiew schufen die Platzbesetzungen öffentlichen Raum ganz im Sinne Hannah Arendts. Für die politische Theoretikerin entsteht öffentlicher Raum erst durch das Zusammenkommen, Sprechen und Handeln von Menschen. In dieser Auseinandersetzung mit der Vielfalt von Meinungen und Perspektiven wird für Arendt Freiheit sichtbar und politische Teilhabe real. Die aktuellen und seit Monaten andauernden Demonstrationen in Serbien nutzen nicht nur Belgrader Plätze wie den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Slavija Trg oder den Parlamentsplatz, sondern auch zentrale Straßen, um wiederholt zu Hunderttausenden Rechtsstaatlichkeit und Demokratie einzufordern.
Straße schlägt Platz
Die fürs Heute wohl einflussreichste Veränderung in der Nutzung von Plätzen und der generellen Verteilung von Platz in der Stadt hat uns die Erfindung des Autos beschert. In der autogerechten Stadtplanung des 20. Jahrhunderts werden städtische Plätze vor allem an den Bedürfnissen der neuen Mobilität ausgerichtet: Der Platz mutiert zum Parkplatz, umtost von mehrspurigen Straßen, und durch Trennung der Funktionen zerstückelt. Die patriarchale Nachkriegsgesellschaft will fahrn, fahrn, fahrn und die Stadt wird ab sofort vom Auto aus gedacht: Zentrale Plätze wie der Karlsplatz oder der Schwarzenbergplatz werden vom Verkehr zerteilt. Durch breite Straßen abgeriegelt, tun sich andere Nutzungen auf diesen großen urbanen Plätzen bis heute schwer. Der Bau des neuen Westbahnhofs verwandelt den begrünten Vorplatz in einen Parkplatz und verbannt den Menschen mittels Unterführung in den Untergrund. In den 1960er Jahren soll eine zweistöckige “Gürtelautobahn” mit nur wenigen Querungsmöglichkeiten den ungehinderten Fluss des Autoverkehrs ermöglichen und die Westautobahn soll mitten ins Zentrum bis zum Ring führen, inklusive Absiedelung des Naschmarkts. Ein Hoch auf jene Menschen, die sich zivilgesellschaftlich engagiert und diese Vorhaben der Stadtpolitik der 1970er Jahre verhindert haben, ebenso wie ein Hoch auf alle, die sich gegen heutige automobile Ausbaupläne wie den Lobautunnel stellen.

Platz ist überall
Wie fabelhaft sich die Stadt für Kinder und Erwachsene anfühlt, wenn weder Auto geparkt noch Auto gefahren werden darf, zeigt die Bloch-Bauer-Promenade im neu gebauten Sonnwendviertel in Favoriten: Mitten in der Stadt spielen Kinder auf der Straße Ball, machen erste wackelige Versuche mit dem Fahrrad, malen sich die graue Pflasterung mit Kreiden bunt - die unmittelbare Nachbarschaft als Abenteuerspielplatz und Freiraum. Die Straße, die sich mäandernd immer wieder zu kleinen Plätzen erweitert, wird durch die Abwesenheit des Autos plötzlich zu einem vielfältigen öffentlichen Raum, den sich die Menschen immer selbstverständlicher aneignen: Bei Schönwetter rollt der Nachbar für alle den Tischtennis-Tisch auf die Straße und manchmal wird am Platz Badminton gespielt. Die Holzpritschen unter den Bäumen laden zum Plausch, im Brunnen kühlen sich Hunde wie Kleinkinder die erhitzten Beine ab, während ein paar Teenager in einer versteckteren Ecke in ihre eigene Welt abtauchen. Dazwischen kreuzen Rad, Roller, Mini-Moped – und alles geht sich stressfrei aus, wenn der große Bully namens “Auto” auf seinen Platz verwiesen wird. Die Verhandlung darüber, wer alles in der Stadt des 21. Jahrhunderts Platz bekommt, ist in vollem Gange. Platz, so zeigt es sich, gibt’s genug und das Glück liegt auf der Straße: Take back the streets!
Elke Rauth ist Leiterin des urbanize! Festivals und Redakteurin von dérive - Zeitschrift für Stadtforschung. Sie interessiert sich für die Stadt als gesellschaftspolitischer Ort und die Organisation des postkapitalistischen Übergangs in Theorie und Praxis.
Die für den Beitrag verwendeten Fotos sind 2011 von jisakiel bei Asamblea aufgenommen worden. Asamblea (spanisch, Versammlung) ist der mit der Occupy-Bewegung, ihren Camps und Demonstrationen bekannt gewordene und in diesem Zusammenhang auf die Proteste in Spanien 2011/2012 zurückgehende Begriff für eine öffentliche Versammlung mit Diskussion, in der jeder, auch zufällig anwesende, Teilnehmer*innen Beiträge zur Diskussion und Entscheidungsfindung leisten kann.