Eine Dramaturgie im Hier und Jetzt
Die Performance "Lovage" ist in enger Zusammenarbeit mit Brigitte Wilfing und Mirjam Klebel entstanden. Wie können wir uns eure Zusammenarbeit vorstellen?
Rotraud Kern: Ich hatte zu Beginn unserer Zusammenarbeit den Wunsch, ein klares Bezugssystem zwischen uns zu definieren, aus dem heraus wir Bewegung generieren. Dabei ist das Miteinander selbst zum essentiellen „System“ für diese Arbeit geworden. Wir haben viel Zeit in ein gegenseitiges Kennenlernen investiert und sehr intensive Erfahrungen geteilt. Es ging nie darum, eine gemeinsame Körpersprache zu finden, sondern um die erweiternde Erfahrung über das Fremde im Anderen. Somit gibt es eine gemeinsame Autor_innenschaft, weil jede innerhalb ihrer eigenen Ästhetik und Körperlichkeit agiert.
Im Ankündigungstext steht, dass ihre eure gemeinsame Praxis zeigt. Was ist eure gemeinsame Praxis?
Rotraud Kern: Unsere Praxis besteht in der Anwendung eines Miteinanders, über das sich eine Dramaturgie im Hier und Jetzt entwickelt. Ein Abdruck des Moments, den wir mit den Anwesenden teilen. Eine Suche nach der Ereignishaftigkeit im Zusammen, ein ständiges Erweitern des eigenen Körpers über die anderen Körper. Ein wichtiger Teil dieser Arbeit ist es, sich frei zu machen von eigener Vorstellung und Kontrolle und Offenheit für das Unbekannte zu bewahren.
Jorge Sanchez-Chiong ist für die Musik verantwortlich. Welchen Stellenwert nimmt die Musik in eurem Stück ein und was können wir erwarten?
Rotraud Kern: Der Sound von Jorge kam erst spät dazu, als Ergänzung und auch als Kontrapunkt. Zu Beginn interagiert die Musik mit dem Raum und soll als öffnendes Element alle Anwesenden einbinden. Wie eine Initiation für unsere Session, die Raum und Anwesende gleichzeitig leert und aktiviert. Jorge ist mit dem Sound auch zum Mitspieler in dieser Praxis geworden. Der Einsatz von Musik ermöglicht eine andere Wahrnehmung von Momenten, umgekehrt entsteht in ihrer Absenz eine plötzliche Nähe zu den Körpern und ihrer Verhandlung.
"Lovage" ist das erste Stück nach 179 Tagen ohne Veranstaltungen, das im Programm von WUK performing arts stattfindet. Was bedeutet es für dich nach so langer ungewisser Zeit nun doch vor Publikum spielen zu dürfen?
Rotraud Kern: Die Unsicherheit bis zum Ende des Prozesses, ob man es überhaupt öffentlich zeigen kann, hat sehr viel Energie gekostet, umso größer ist jetzt die Freude. Es ist sehr besonders, gleich zur Öffnung unser Projekt teilen zu können, weil es fast ein bisschen so ist, als ob man ein neues Publikum trifft. Mit neuen Augen, Ohren und Herzen. Die Pandemie hat den Begriff und die Wahrnehmung von Berührung doch sehr verändert und intensiviert jetzt die Erfahrung damit. Wie wenn man die ersten Spuren in eine frisch verschneite Landschaft setzt.