Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie

© Kati Göttfried

Das ist Demokratie – langweilig wird sie nie

von Chris Standfest

Wie kann Demokratie tänzerisch-choreographisch beforscht/analysiert werden? Diese Fragestellung hat bei Chris Standfest zunächst Widerstände ausgelöst. Denn was ist Demokratie? Und: Wäre es nicht ebenso richtig, zu fragen, ob „Demokratie“ tänzerisch-choreographisch beforscht werden kann?

The Democratic Season! Was für eine Herausforderung! Durchaus overwhelmed stürze ich mich also anlässlich des zweiten Zyklus des „Betriebs“ von Alexander Gottfarb und Anna Maria Nowak / Archipelago in die Fragestellung, wie Demokratie tänzerisch-choreographisch beforscht/analysiert werden könne.Nicht ohne gewisse Widerstände. Denn was ist Demokratie? Und: Wäre es nicht ebenso richtig, zu fragen, ob „Demokratie“ tänzerisch-choreographisch beforscht werden kann?

© Kati Göttfried

Spuren des Demokratischen „im Fleisch“

Tanz und Choreographie sind, zumindest in ihrer westlich-postmodernen Linie mit ihren vielfältigen Praktiken zur Emanzipation des individuellen Körpers von gesellschaftlichen Konventionen und Hierarchien, wohl die Kunstformen zur Beförderung einer Utopie vonliberaler Demokratie. Seit den Reformbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich eine umwerfende Fülle von Praktiken entwickelt, die es ermöglichten, Fragen nach der Entwicklung eines befreiten Selbst im Zusammenleben mit anderen als solche des Körpers zu stellen – und nicht wenige Avantgarden und/oder Wellness-Ideologien versprechen ja auch, sie zu lösen.

Anna Maria Nowak, Alex Gottfarb und die begleitenden Künstler_innen machen sich nun auf, ihre künstlerischen Mittel und Methoden erneut auf die Probe zu stellen: im offenen Raum, sichtbar inmitten der Stadt und inmitten „von Leuten“ und dezidiert als Alternative zu Demokratie als Freiheit zu Konsum. Bedürfnisse, Fähigkeiten, Fragen von Macht und Ressourcen und v.a. der Unterdrückung bestimmter Stimmen leiten ihre Suche nach einer „Demokratie im Fleisch“(Nowak/Gottfarb). Ich weiß sehr genau, was sie meinen: Tanz und Choreographie sind Formen physischer Begegnung, mit sich, mit anderen, ob nun Menschlichem oder Nichtmenschlichem; es sind Künste der Begegnung mit der Welt im unausweichlichen und ja auch schmerzlichen Wissen darum, dass wir immer Mit-Sind. Also: unkontrolliert. Beyond Control.

Böse Geister und der geteilte Raum des Theaters

Brachialer Szenenwechsel: Burgtheater. Johan Simons inszeniert Dostojewskis „Dämonen. Ein Ensemble gibt die Nicht-mehr-zu-herrschen-in-der-Lage-seienden-Klasse im zaristischen Russland. „Das Volk“ wiederum, welches ja im Demos steckt, spricht – vielmehr raunt und klagt – fatal aktuell mit der Stimme völkisch-religiöser Populisten. „Dämonen“ also als vielstimmige und selbstwidersprüchliche Verhandlung von Regierungsweisen – als Untersuchung von Nicht-Demokratie – bei gleichschwebender Aufmerksamkeit im Raum mit zu Markenzeichen gewordenen Schauspieler_innen eines völlig hierarchischen Theatermodells. Und dennoch: In den dreieinhalb Stunden der Aufführung findet etwas statt, das im Kern des Theaters, des Tanzes, der Choreografie liegt: Begegnung und Nähe als Distanznahme. Ständiges Ausloten von Verräumlichung, von Abständen zueinander – verkörperte Reflexion. All dieses als Organisierung von geteiltem Beobachten – Kommunikation.

© Kati Göttfried

Komposition, Konstellation, Außen

Warum ich auf diesem Abstand bestehe? Oder was mich daran anzieht? Wohl das Wissen um Strukturen – d.h. Regierungsweisen, Herrschaft, Gesellschaft und Nicht-Unmittelbarkeit als Verweigerung von Ursprung und Identität. Es geht um diese vertrackte Gleichzeitigkeit von Berührung und Abstand; um die menschlich-nichtmenschlichen Gefüge, um Handlungs- und Beobachtungsmodelle jenseits der westlichen Ordnung von Subjekt und Objekt etc.; um eine ästhetische Ökologie, neben der politischen. Oder, frei nach Haraway: Nicht alles hängt mit allem zusammen, sondern etwas mit etwas. Und das geht mit Komposition.

Ich drücke mich um den Begriff Demokratie in Tanz und Choreografie herum, weil ich diesen auf der Ebene von Regierungsform und staatlicher Öffentlichkeit belassen möchte. Ich verfüge nicht über einen emphatischen Begriff von Demokratie. Es gilt, diese in all ihren aktuellen Erscheinungsformen aufs genaueste zu beobachten und aktivistisch und/oder politisch zu beeinflussen. Hierfür gibt es Handlungsweisen, Protokolle, Kämpfe. Auf der Ebene der Apparate sind es Mitbestimmung, Organisierung und Vermittlung von Interessen: Regierungskunst, Gemeinwohl. Das trifft auch auf unser künstlerisches Feld zu, und es gibt sie ja, die Wechselwirkung zwischen der Organisation der Arbeitsbedingungen und dem künstlerischen Geschehen.

In der Kunst begegne ich – Kind meiner Zeit, der Sozialen Bewegungen turned into neo-liberale Querdenker und „Basisdemokratie“ als Speerspitze von Individualisierung und Verschleierung von Macht – „dem Demokratischen“ mit Misstrauen. Es geht um Experimente mit Hierarchien und Strukturen von Entscheidungsfindung, um die affirmative Haltung der Improvisation (ja, und …), um radikale Inklusion (da ja unmöglich). Es geht um die Herstellung von Einverständnis als konfliktvoller Liebe und/oder unmöglicher Zuspitzung von Konflikt. Ich denke an den jungen Genossen in Brechts „Maßnahme; an sprachliche und außersprachliche Spielmodelle fürs Sich-in-Gefahr-Begeben, weil genau in Tanz und Choreographie die methodischen und wildwuchernden, akademisierten oder radikalisierten Berührungen von Körpern (auch: unbekannten, nicht-befreundeten, nonhuman), die geteilte Anwesenheit, jedes Mal eine Gefahr darstellen. Und das – siehe Pandemie, Krieg, Digitalisierung – immer mehr. Consent, neue Aushandlungspraktiken, Sorge, Radikale Zärtlichkeit, all das gilt es neu zu lernen – als Erzeugen von Glück im Künstlerischen, als Lernen von Leid auch. Ob das demokratisch ist?

Ich sehe das jetzt schon beglückende Experiment der „Democratic Season“ als verwandtschaftliches Herausfordern eines Denkens des Politischen jenseits von Demokratie-als-Partizipation-durch-Konsumtion. Oder genauer: als ein sinnliches, fröhliches, affektives und genaues Begleiten eines politischen Denkens und Handelns dagegen. Also: Wir sehen uns im „Betrieb“! Ich freue mich auf die neue Saison und dieses Wahnsinnsthema!

Chris Standfest hat lange Jahre in kollektiven Projekten in- und außerhalb der Darstellenden Künste, und hier als Performerin und Dramaturgin, verbracht. Seit 2013 ist sie Dramaturgin und Kuratorin bei ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival. Und immer noch denkt sie an den Song der Einstürzenden Neubauten: „Keine Schönheit (ohne Gefahr)“.

Das titelgebende Zitat ist aus Andreas Dorau und die Bruderschaft der kleinen Sorgen: Demokratie, 1988.

Der Betrieb: The Democratic Season | A project initiated by Alexander Gottfarb and Anna Maria Nowak, Archipelago 

Vorstellungen
Mi 15.2. bis Sa 1.4.2023
Öffnungszeiten: Mi bis Fr 13 bis 18 Uhr, Sa 14 bis 19 Uhr
Vogelweidplatz 13, 1150 Wien
kostenfrei

Mehr Informationen findest du auf der Eventseite.

© Kati Göttfried

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