Crazy times for democracy!

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Crazy times for democracy!

Mit Widerstandsmessung zu neuen Lösungen.

Demokratie – ein zartes Pflänzchen oder längst ein ausgehöhlter Begriff? Musiker und Labelbetreiber Bernhard Kern fragt sich, wie viel Mitbestimmung tatsächlich möglich ist, wenn Machtspiele, Desinformation und Ausschlüsse den Ton angeben. Zwischen Zweifel und Hoffnung skizziert er alternative Wege zu mehr Beteiligung – anhand des Beispiels "Systemisches Konsensieren".

Lesezeit: ca. 4 Minuten

Als ich gefragt wurde, einen Text zum Thema Demokratie zu schreiben, hab‘ ich spontan zugesagt. Als ich dann wirklich Zeit fand, mich eingehend damit zu beschäftigen, begann ich ernsthaft zu grübeln. Wieso sollte ich mich als Musikmensch zu solchen weitreichenden Themen äußern.  Welche Richtung sollte ich anvisieren? Soll ich ein Plädoyer für das zarte Pflänzchen „Demokratie“ schreiben, das allen zugutekommt, aber liebevoll gehegt und gepflegt werden muss, weil es sonst eingeht? Oder soll ich mich als alter Nörgler outen, der alle paar Jahre ein Kreuzerl macht und somit Verantwortung abgibt – das kann’s ja auch nicht sein!? 

Einer sogenannten direkten Demokratie, wie in der Schweiz, wo über sehr vieles abgestimmt wird, stehe ich skeptisch gegenüber. Vor allem, da ich ehrlich gesagt Angst vor den Desinformations-Kampagnen des Boulevards und dessen Einfluss habe. Es schwirren mir grundlegende Fragen im Kopf herum: Kann ich eine Demokratie, bei der, wie kürzlich bei der Wien-Wahl, über ein Drittel der Einwohner*innen gar nicht wahlberechtigt ist, überhaupt ernst nehmen? 

Des Weiteren heften sich den Begriff Demokratie gern auch Despoten (hier hab ich bewusst die männliche Form gewählt) ans Revers, die immer wieder gewählt werden, um weiterhin menschenverachtende Politik durchzuboxen. 

Auch in alternativen Zirkeln wird unter dem Deckmantel Demokratie manchmal Schindluder betrieben. Wer kennt sie nicht, die basisdemokratischen Plena, in denen sich jene Personen durchsetzen, die am lautesten sind und über andere drüberfahren oder das längste Sitzfleisch aufweisen. Allzu leicht wäre der opportunistische Simpsons-Fernsehsprecher Kent Brockman zu zitieren: „I've said it before, and I'll say it again: Democracy simply doesn't work.“ 

Doch welches gesellschaftliche System wäre die Alternative dazu? Die Gefahr besteht ja gerade bei solch alarmistischer Rhetorik darin, für mehr Politikverdrossenheit zu sorgen und einer illiberalen, unsolidarischen, autoritären Gesellschaftsordnung weiter den Weg zu ebnen. 

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Gemeinsam zu tragfähigen Entscheidungen

Ich finde Ansätze wie die Einbindung von zufällig ausgewählten Menschen in Entscheidungsprozesse sehr spannend und fände gut, wenn es hierzu mehr Initiativen gäbe. Der Klimarat war so ein positives Beispiel. Personen aus allen Regionen und Teilen der Gesellschaft erarbeiteten gemeinsam Maßnahmen, um die Klimazukunft aktiv mitzugestalten. Solche Initiativen könnten vielleicht ein Schlüssel dazu sein, damit sich Menschen ernst genommen fühlen und die Chance erleben, einerseits sich selbst eine Meinung zu bilden und diese dann auch kund zu tun. 

Auch die Organisationsform der Soziokratie bzw. die Praxis des „Systemischen Konsensierens“, in die ich hineinschnuppern konnte, wirkt in diesem Zusammenhang erfrischend. Sie ermöglicht es, neue Ansätze zu dem fest in unseren Köpfen verankerten Verständnis von Demokratie, herkömmlichem Mehrheitswahlrecht und Hierarchie zu finden. Systemisches Konsensieren hat bei der Entscheidungsfindung in kleineren Gruppen sehr einfach und schnell zu praktikablen Lösungen verholfen. Die Methode hat sich als durchaus brauchbar erwiesen, um langwierige Gruppendiskussionen, laute und mucksmäuschenstille Teilnehmer*innen, unsachlichen Streit, Frontenbildung und interne Machtstrukturen zu unterbinden. 

Das Prinzip ist leicht erklärt: Anstelle der gängigen Abstimmungspraxis der Mehrheitsentscheidung – sprich: jene Option mit den meisten Stimmen kommt zum Zug – wird beim Systemischen Konsensieren zuerst darauf geachtet, gemeinsam unterschiedliche Lösungsoptionen zu entwickeln. Dabei kommen alle Wünsche, Bedenken und Argumente auf den Tisch. Alle Lösungsvorschläge stehen unkommentiert und gleichberechtigt nebeneinander und inspirieren zu weiteren Lösungsvorschlägen. Daraufhin wird abgestimmt und zwar mittels Widerstandsmessung. Die Vorschläge werden individuell von den einzelnen Beteiligten bewertet, wobei folgende Gewichtung üblich ist: 0 bedeutet, dass ich persönlich diesen Vorschlag voll und ganz unterstütze und keinen Widerstand dagegen habe. 10 bedeutet, dass ich diesem Vorschlag gar nichts abgewinnen kann und vollen Widerstand kundtun möchte. Danach werden die Punkte zusammengezählt und dem Lösungsansatz mit dem geringsten Widerstand wird nachgegangen. Durch diese Methode ist es möglich, sehr rasch und pragmatisch tragfähige Entscheidungen mit hoher Akzeptanz zu erreichen. Eine Umsetzung kann dann schnell vonstattengehen, da schwerwiegende Einwände genauer berücksichtigt werden und die einzelnen Gruppenmitglieder im Prozess zum Finden einer Lösung gleichberechtigt eingebunden sind. Im Gegensatz dazu führt ein Mehrheitsentscheid meist dazu, dass es innerhalb einer Gruppierung zu Lagerdenken kommt und Gewinner*innen und Verlierer*innen erzeugt. Kooperation wird dann leicht als fauler Kompromiss erlebt, getreu dem Motto „Der G’scheitere gibt nach“. 

Am besten kann diese Methode ganz einfach mal selbst im Familien- oder Freundeskreis ausgetestet werden. Wo sollen wir zu Abend essen? Welchen Film wollen wir uns im Kino ansehen? Wo soll der Familienurlaub hingehen? Zuerst gemeinsam Ideen und Vorschläge sammeln, eigene Wünsche, Vorlieben oder Bedenken formulieren und danach eine Widerstandsmessung durchführen. Ihr werdet sehen, wie einfach und praktikabel sich Entscheidungen in Gruppen finden können. Wie und ob sowas auf eine größere Ebene skalierbar wäre – keine Ahnung. Aber auf alle Fälle wäre es spannend bei einer Wahl nicht nur eine Stimme an eine politische Partei abzugeben, sondern genau differenzieren zu können, welche Parteien welchen Widerstand hervorrufen. 

Text: Bernhard Kern war seit den späten 1990ern in unterschiedlichen Bandformationen als Musiker tätig. Seit 2005 betreibt er das unabhängige Label SILUH RECORDS, seit 2020 gibt es den Plattenladen SIILUH LADEN in Wien. 

SILUHRAMA Festival

Das 20-jährige Jubiläum feiert SILUH RECODS mit einem zweitägigen Festival mit nationalen und internationalen Acts im WUK und im Kollektiv Kaorle. Dazu erscheint eine LP-Compilation namens „POCKET SONGS“. 

Siluhrama Festival
celebrating 20 years of Siluh Records
mit Christiane Rösinger + Friends from Vienna | Laundromat Chicks | Topsy Turvy | Anadol (DJ Set)
Fr 13.6.2025
19.00 Uhr
Saal
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DEMOKRATIE
Versuchsanstalt für immer.

Demokratie ist ein Prozess des Aushandelns, Anpassens, Verteidigens. Sie braucht Begegnung und Gespräch. 2025 wollen wir aus unterschiedlichen Perspektiven über Demokratie reden. Und die Frage stellen: Was tun?

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