GAZ
Eine gigantische Explosion erschüttert ein Energieunternehmen. Doch was jetzt? Bauen die Arbeiter_innen die Fabrik wieder auf? Oder wenden sie sich doch gegen dieses kapitalistische System? Wir haben die beiden Komponisten des Stücks Roman Grygoriv und Illia Razumeiko gebeten, uns mehr über ihre Herangehensweise zu verraten.
Ihr nennt GAZ eine „opera dystopia“. Warum habt ihr diesen Untertitel gewählt?
Roman Grygoriv und Illia Razumeiko Unser erster Arbeitstitel für das Projekt war „opera performance“. Mit dem Begriff der Performance konzentrierten wir uns zunächst auf eine Kombination von theatralischen und performativen Praxen in der neuen Oper. Dann entwickelten wir dieses Konzept weiter zur „opera dystopia“, als Verweis auf eine zukünftige dystopische Gesellschaft. Utopie und Dystopie, Apokalypse und Post-Apokalypse sind Bestandteile der Opernmythologie seit ihren Anfängen im frühen 17. Jahrhundert. Heute hat der Begriff der Dystopie natürlich eine Vielzahl semantischer Bezüge aufgrund seiner reichhaltigen Literatur- und Filmgeschichte. Aber es war uns wichtig, unsere eigene Dystopie zu kreieren, in der speziellen Sprache der neuen Oper und des neuen Musiktheaters.
GAZ bezieht sich auf ein Werk Georg Kaisers aus 1919. Warum ist dieses 100 Jahre alte Stück heute noch relevant?
Roman Grygoriv und Illia Razumeiko Die künstlerische Explosion zwischen 1910 und 1920 hat für uns aus vielen Gründen noch immer Bedeutung. Historisch war es die Epoche der Utopien und deren Verwandlung in Dystopien. Sehr ähnlich zu dem, was wir heute wieder auf anderen Ebenen erleben im Zusammenhang mit all den globalen Ökologie-, Kapitalismus- und Kunstkrisen.
Auch die 1920er-Jahre sind für uns interessant, als Zeit des „Todes der Oper und der Geburt der Psychoanalyse“. Viele damals in Gang gesetzte wissenschaftliche, soziale und künstlerische Prozesse prägten das gesamte 20. Jahrhundert und sind ein wichtiger Teil unserer Identität.
In seinem Stück beschreibt Kaiser eine futuristische Gasfabrik im Jahr 2019 – vielleicht erfüllen wir mit unserer Operninterpretation dieser Geschichte also seine Vision 100 Jahre nach der Veröffentlichung.
Georg Kaisers Werktrilogie „Die Koralle“, „Gas I“ (1917/18) und „Gas II“ (1919) sind Theaterstücke. Warum habt ihr euch entschlossen, daraus eine Oper zu machen?
Roman Grygoriv und Illia Razumeiko Unsere Interpretation folgt den Theaterstücken nicht buchstäblich. Zusammen mit unserer Regisseurin Virlana Tkacz entwickelten wir unsere eigene Operngeschichte, mit unterschiedlichen Texten für das Libretto, von Pavlo Tychynas ukrainisch-modernistischer Dichtung bis zum „Kyrie“ oder „Der Leiermann“ von Franz Schubert/Wilhelm Müller. In manchen Szenen haben wir auch Kaisers Texte eingebaut, aber seine vorrangige Rolle ist es, unserem Stück den Geist und den „Atem“ des deutschen Expressionismus einzuhauchen.
Neben Kaiser nutzen wir noch eine weitere wichtige Inspirationsquelle: den ukrainischen Avantgarde-Regisseur Les Kurbas, der übrigens 1907/1908 in Wien studierte und von den Werken Max Reinhardts beeinflusst war. Auf der Basis von Kaisers „Gas“-Trilogie gestaltete er 1923 in Kiew eine sehr starke und spezielle Uraufführung, die man heute durchaus als „post-dramatisches“ Theater bezeichnen könnte: praktisch ohne Text, nur auf Choreografie und Avantgarde-Musik aufbauend. Das Buch zu dieser Produktion ging verloren und Les Kurbas wurde 1937 in einem sowjetischen Konzentrationslager umgebracht. In diesem Sinne vereint unser Stück also deutschen Expressionismus mit ukrainischer Avantgarde: künstlerische Strömungen, denen später von den faschistischen und sowjetischen totalitären Regimen ein Ende gesetzt wurden.
Was wollt ihr bei eurem Publikum bewirken? Seht ihr zum Beispiel eine Verbindung zur „Fridays for Future“-Bewegung?
Roman Grygoriv und Illia Razumeiko Eigentlich versuchen wir direkte politische Botschaften zu vermeiden und überlassen dieses Feld lieber dem politischen „Sprechtheater“, aber natürlich trägt die Genese von GAZ viele „ökologische“ Fragen in sich. Hier können wir Ökologie auf einer ganzen Reihe von Bedeutungsebenen reflektieren: der Ökologie des Planeten, der Ökologie von Beziehungen, der Ökologie der Kunst usw.
Als Oper versuchen wir auch uns selbst und dem Publikum metaphorische Fragen zu stellen: Was ist Realität, und wie können wir diese im Prozess der Performance berühren oder transformieren? Was sind die Beziehungen zwischen System und Mensch, und wie werden sich diese in unserer post-industriellen Gemeinschaft verändern?
Wir haben versucht, eine dystopische Opernwelt in Form eines multidimensionalen Spiegels zu erschaffen, in dem sich Publikum und Gesellschaft sehen und eigene Probleme reflektieren können. In diesen Performances ist es uns besonders wichtig, das Interpretationsfeld nicht einzuengen und den Zuschauer_innen keine simplen Antworten zu liefern; wie so oft, würde dies das Sprech- und dokumentarische politische Theater verfälschen und die darstellenden Künste in eine Form von reiner politischer Deklaration zwängen, etwas, das wir im metaphorischen Feld der neuen Oper vermeiden müssen.