Auf der Tribüne

Photo by Vienna Reyes on Unsplash
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Auf der Tribüne

"Die Präsidentin" macht sich utopische Gedanken auf der Stadiontribüne.

Wir sitzen auf einer Stufe im mittlerweile fast leeren Fansektor. Es ist November. Die nasse Kälte kriecht über den Boden, liegt in der Luft. Es ist arschkalt.

Utopie – Vor 40 Jahren war die Idee des Werkstätten- und Kulturhauses ein utopischer Gedanke. Wie hat sich diese Utopie in den vergangenen Jahrzehnten verändert und wie kann eine WUK-Utopie der Zukunft aussehen? Mehr noch: Was bedeutet Utopie in den unterschiedlichsten Facetten von Kunst, Kultur, Bildung, Beratung und den vielen anderen Tätigkeitsfeldern, die das WUK in sich versammelt? Wir schaffen im WUK-Jubiläumsjahr 2021 Platz für utopische Gedanken.

An dieser Stelle macht sich Die Präsidentin Gedanken zur Zukunft des Fußballsports.

Wir sitzen auf einer Stufe im mittlerweile fast leeren Fansektor. Es ist November. Die nasse Kälte kriecht über den Boden, liegt in der Luft. Es ist arschkalt.

Warum sind wir hier?

Ich bin einfach nur fertig. Meine Stimme ist im letzten Schrei verloren gegangen. Der Sinn des Lebens mit der Sonne vor über einer Stunde verschwunden. Ich muss aufs Klo. Aber ich kann nicht aufstehen. Ich starre vor mich hin. Ich schaue auf das Spielfeld. Irgendwer räumt irgendwas auf. Meine Zehen und Finger sind fast abgefroren. Der Tag mit diesem beschissenen Abend steckt mir in den Knochen. Ich habe heute alles verloren.

Sieht so die Utopie aus?

Ich weiß nicht. Ich sehe nichts.

Du hasst diesen Tag. Du bist müde vom Hass. Du hast so viel geschrien, dass du nichts mehr zu sagen hast. Dabei sagst du, dass du Fußball liebst. Wenn ich dich so ansehe, denke ich: Eigentlich ist der Hass vorbei. Ich sehe Müdigkeit, Enttäuschung. Ein verletztes Reh, hingeworfen in die Nacht. Das Bier in deinen Händen ist das einzige, was dich noch zusammenhält.

Bis hierhin war ich in deinem Bild. Aber hier trennen wir uns.

Wieso? Sieh dich an. Du bist komplett hinüber. Dreckige Schuhe, nasses Haar. Grad, dass dir keine Rotzglocke auf den Busen tropft.

Ja, aber das ist ja gerade das Schöne daran.

Wie meinst du das?

Das Schöne an diesem Bild, das du so gefühlig zeichnest, ist das, was du nicht siehst, was ich aber sehe, weil ich es bin, die hier sitzt. Das ist der Unterschied zwischen uns. Die siehst die Utopie nicht. Ich kann sie spüren. Sie sitzt mir zwischen den Knochen, bläst meine Muskeln auf, lässt mich tief Atem holen und singen. Die Erschöpfung ist auch eine Erleichterung. Der Hass ist auch Liebe. Die Müdigkeit ist auch Glück und in der Kälte liegt – für mich – warme Zufriedenheit.

Die Utopie, Teil von etwas zu sein, das eine Zukunft hat, das möglich ist?

Ja. Die Möglichkeit ist doch die reine Utopie. So, wie du es sagst, ist jede Utopie im Kern dieselbe. Unsere hat einen Namen: Meister sein. Meister feiern. Singen. Gemeinsam den Sieg errungen haben.

Meister sein.

Ich weiß, dass das komisch klingt, in deinen Ohren. Du sitzt nicht neben mir. Du tust nur so.

Ja. Ich fühl mich hier nicht wohl. Ich sehe, was dieser Ort dir ist. Aber ich habe die letzten Stunden damit verbracht, angestarrt zu werden und auf die Blicke nicht zu reagieren. Sie sehen nicht mich. Sie sehen meinen Rollstuhl, meine Kleidung, versuchen, mich einzuordnen und es gelingt ihnen nicht. Ich ersticke unter all den Fragen, die sie nicht stellen.

-

Bist du stumm jetzt? Schaust vor dich hin. Was siehst du da in deinem Bier? Viel ist es nicht mehr.

Nein. Ich werde es auch nicht mehr trinken. Es ist abgestanden und so kalt, dass ich es nicht mehr möchte.

Weil es weh tut?

Ja. Ich wünsche mir, dass es diese Blicke nicht gibt. Die Blicke, die dich davon abhalten, dich komplett wegzustellen und so laut zu schreien, dass deine Stimme zwischen Zigaretten, Bier und dieser kalten Luft zerbricht.

Ich sehne mich nach einem Ort, der das, was diese Tribüne für dich bedeutet, für mich ist.

Dann lass es doch dieser Ort sein! Meine Utopie ist, dass wir genau hier bleiben können, dass wir uns nicht abhalten lassen von den verirrten Blicken.

Die Gesellschaft ist noch nicht so weit. Man kann auch ohne Fußball leben.

Ja, aber es soll niemand ohne Fußball leben müssen. Die Gesellschaft wird so weit sein, wenn wir hier bleiben. Wenn wir immer wieder kommen. Trinken, rauchen, schreien – und uns gegenseitig schützen vor den Blicken.

Es werden nicht nur Blicke sein.

Dann nicht nur vor den Blicken. Vor dem anderen auch. Am Ende setzt sich der Fußball durch. Das glaube ich. Und nicht das Trennende unserer Gesellschaft. Nicht die Angst. Nicht der Hass. Das ist doch lächerlich. Wie lange muss man schreien „Alle zusammen“ bis wirklich alle zusammen stehen können?

Ich bin schon viel ruhiger jetzt. Die Anspannung, die diese Blicke in meinem Körper hinterlassen haben, ist fast weg. Ich sehe, glaub ich, was du siehst.

Den gemeinsamen Hass in der Kälte? Die nassen Socken? Das Bier eines anderen in meinen Haaren?

Ja. Und ich find‘s geil.

Perfekt. Das ist die Utopie, die wir gesucht haben.

Utopie: Die Präsidentin. Sie ist vielleicht kein intellektuelles Kaliber, aber mit den richtigen Leuten hat sie Spaß an neuen Gedanken. Geht einem guten Streit selten aus dem Weg und treibt sich am liebsten in suffigen Kellerbeisln herum. Der Ort ihres Wirkens ist ein bekanntes Fußballstadion und, wenn du’s genau nimmst, die völlig zugeräumte Atmosphäre auf der Tribüne (Fahnen, Bengalen, Rauch, Glitzerzeugs und jede Menge lautes und feuchtes Gefühl von oh so vielen Menschen), aber auch alles davor und danach.

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