Dramaturgie der Achtsamkeit
Über das Potenzial verschiedener Fähigkeiten und sichere Räume
Die gemeinsame Produktion von ArtMenők und HODWORKS schafft einen Raum, in dem behinderte und nicht-normative Performer*innen mit abled people gemeinsam auf der Bühne stehen, um eine Welt zu erschaffen, die sie in ihrem persönlichen Alltag leben möchten. Die beiden Ensembles legen nahe, dass der Bereich der zeitgenössischen darstellenden Künste der geeignetste Ausgangspunkt für den seit langem geforderten tiefgreifenden sozialen Wandel sein könnte.
Wir haben mit Andrea Mészöly, Gruppenleiterin bei ArtMenők, und Adrienn Hod, der Leiterin des Tanzensembles HODOWRKS, gesprochen.
IDOL bringt Performer*innen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Hintergründen zusammen. Was bedeutet das Konzept eines Idols für euch persönlich?
Andrea Mészöly: Ein Idol ist für mich eine Person, zu der ich aufschaue, deren Arbeit ich sehr schätze oder von der ich glaube, dass sie Fähigkeiten hat, die ich nicht besitze. Im Leben sind wir natürlich alle unterschiedlich und kommen aus verschiedenen Richtungen. Es ist wichtig, sich dessen bewusst zu sein und sich selbst zu akzeptieren. Orte, an denen Menschen sie selbst sind, sich nicht verstellen, wo verschiedene Perspektiven sich verbinden und Menschen einander beeinflussen – dort entstehen Situationen, an denen alle wachsen.
Adrienn Hod: Wie Andrea bereits gesagt hat, ist ein Idol eine Person oder Sache, die man bewundert oder liebt. Für mich sind alle Mitglieder der Gruppe zu Idolen geworden. Es geht darum, die einzigartigen Fähigkeiten der Einzelnen sichtbar zu machen und das Konzept von Gleichberechtigung innerhalb der Gruppe zu erforschen. Der Titel „IDOL“ entstand erst nach der Fertigstellung des Stücks.
Wie verlief der kreative Prozess über die neun Monate der Probenzeit und welche Momente waren besonders eindrucksvoll?
Mészöly: Adrienn, Imola Kacsó und Márton Gláser brachten als Tänzerinnen von HODWORKS viele neue Qualitäten in den Probenraum. Ihre Anwesenheit inspirierte die Teilnehmenden, mutigere Experimente zu wagen. Mich hat vor allem der Moment überrascht, als die Teilnehmer*innen im Rollstuhl den Wunsch äußerten, unbekannte Situationen auszuprobieren zu wollen. Also z.B. aus dem Rollstuhl auszusteigen, ihre gewohnte Position und ihre Komfortzone während des Tanzes zu verlassen. Sie fühlten sich sicher und begannen, mehr Eigeninitiative zu zeigen. Dies galt natürlich für alle Teilnehmer*innen.
Hod: Ich habe versucht, meine bisherigen Erfahrungen in die Arbeit mit der Gruppe einfließen zu lassen, doch neu war für mich, selbst physisch am Anfang des Prozesses teilzunehmen. Durch das gemeinsame Tanzen konnte ich die Entwicklungen von innen heraus spüren. Eine der schönsten Entdeckungen für mich war, eine Dramaturgie zu finden, die für alle Teilnehmer*innen einen sicheren und funktionierenden Raum schafft. Die Struktur auf Zufälligkeit und auf das Unbekannte zu gründen, wäre mir allein nie eingefallen. Das hat mich aus meinen gewohnten Mustern herausgeholt und neue Verbindungspunkte in der Gestaltung geschaffen, die Lebendigkeit und dennoch Stabilität in den Prozess bringt. Auch das Verständnis für und der Umgang mit dem Faktor Zeit hat sich geändert, denn man musste darauf warten, dass jemand in seinem eigenen Tempo die Bühne betritt oder verlässt.
Wie hat die Zusammenarbeit von HODWORKS und ArtMenők eure jeweilige künstlerische Vision beeinflusst?
Mészöly: Natürlich haben wir viel durch die strukturierten Improvisationen gelernt. Für mich war es aber auch wichtig, den Prozess nach den Aufführungen zu reflektieren. Es waren neun sehr intensive Monate. Was die Emotionen dann aber wirklich bewegt hat, war der Moment, als alles vorbei war – der Probenprozess und die Aufführung. Das hat ein emotionales Vakuum hinterlassen, da in der Zeit vor der Premiere die Verbindungen in der Gemeinschaft intensiver geworden sind und viel rund um die Aufführung geschehen ist. Daher war es wichtig, nach den Aufführungen Zeit einzuplanen, um das Erlebte zu verarbeiten, miteinander zu reflektieren und auszusprechen, dass wir erschöpft sind oder dass es schwerfällt, wenn etwas zu Ende geht. Durch „IDOL“ haben wir an Bekanntheit gewonnen und die Performer*innen sind routinierter geworden.
Hod: Die Arbeit mit ArtMenők hat mich darin bestärkt, dass jede Bewegung ihre Berechtigung hat. Ich habe gelernt, dass es keine festgelegten Grenzen gibt, sondern dass diese ständig neu definiert werden können. Das hat mich mutiger gemacht und mir Kraft für zukünftige Projekte gegeben.
Wie schafft ihr eine Umgebung, in der sich die Performer*innen sicher fühlen, Risiken einzugehen?
Mészöly: Erstmal geht es um den physischen Raum. Es ist wichtig, ein Gefühl für den Raum zu bekommen – wie groß ist der Raum, wie ist er aufgebaut, wo stößt man an seine Grenzen, z.B. wie kann man sich im Rollstuhl darin bewegen?
Dann geht es natürlich um den Raum untereinander. Wer fühlt sich womit wohl, worauf muss ich achten, wenn ich mit jemand anderem tanze, und wie kann ich mich mit dem Gegenüber verbinden? Um einen wirklich sicheren Raum zu schaffen, in dem alle frei experimentieren können, muss es immer möglich sein, kommunizieren zu können, wenn etwas zu viel ist oder wenn wir etwas anders machen sollten.
Es spielt also das Bewusstsein für den Raum und die eigenen Grenzen eine große Rolle.
Hod: Die Tatsache, dass ich drei Monate lang mit der Gruppe in Bewegung war, hat das Vertrauen gestärkt. Wir haben zusammen getanzt, uns berührt und gemeinsam etwas erschaffen. Diese physische Nähe hat es ermöglicht, auf einer tieferen Ebene miteinander zu arbeiten und sich wirklich zu öffnen. So konnten von innen heraus Vorschläge entstehen, auf die man reagieren oder die man bremsen konnte – nicht durch Erwartungen oder Worte, sondern durch physisches Erleben und Schaffen. Die Gruppe liebt es, zusammen zu sein. Dieses wöchentliche Treffen bedeutet ihnen viel, da sie ihren Körper anders erleben können als im Alltag. Sie genießen es, sich durch den Körper auszudrücken und einen besonderen Raum zu betreten. Die Mitglieder der ArtMenők-Gruppe sind keine professionellen Performer*innen (mit Ausnahme von Károly Tóth); sie treffen sich wöchentlich, um sich durch Bewegung weiterzuentwickeln und neue Erfahrungen zu machen.
Über das Stück
Wir schauen zu unseren Vorbildern auf, verehren sie und ahmen sie nach. Ein Idol ist eine Person oder ein Vorbild, dem wir folgen können. Idol. An wen denken wir, wenn wir dieses Wort hören? Nach welchen normativen Vorstellungen wählen wir sie aus?
IDOL, eine gemeinsame Produktion von ArtMenők und HODWORKS, schafft einen Raum, in dem Performer_innen mit und ohne Behinderungen gemeinsam auf der Bühne stehen, um eine Welt zu erschaffen, die sie in ihrem persönlichen Alltag leben möchten. Die beiden Ensembles legen nahe, dass der Bereich der zeitgenössischen darstellenden Künste der geeignetste Ausgangspunkt für den seit langem geforderten tiefgreifenden sozialen Wandel sein könnte. Diese Art des Überdenkens und Überarbeitens der oft strengen Regeln des europäischen zeitgenössischen Tanzes kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.
Gallery
Credits
Performers
Márton Gláser, Ági Gyulavári, Imola Kacsó, Boglárka Karcza, Tamás Kerekes, Márk Marián, Andrea Mészöly, Levente Nagy, Anna Pakh, Panka Pataki, Henrietta Sudár, Kata Tóth, Károly Tóth, Ábel Vay
Director, choreographer
Adrienn Hód
Artistic assistants
Imola Kacsó, Márton Gláser
ArtMenők professional/group leaders
Andrea Mészöly, Ági Gyulavári
ArtMenők professional/group assistants
Henrietta Sudár, Károly Tóth
Music
Rozi Mákó
Light design
Kata Dézsi
Stylist
Viktor Szeri
Leader of the artistic program of ArtMenők
Kata Kopeczny
Support from:
OFF Alapítvány, Trafó Kortárs Művészetek Háza, Budavári Önkormányzat, Nemzeti Kulturális Alap, Műhely Alapítvány
Biografien
HODWORKS, 2007 von Adrienn Hód gegründet, ist in der ungarischen und internationalen zeitgenössischen Tanzszene aktiv. Die Kompanie arbeitet mit freischaffenden Künstler_innen und erforscht in wechselnden Konstellationen grenzüberschreitende Richtungen, oft mit Fokus auf die Körperlichkeit des entblößten Körpers. Ihre Aufführungen wurden dreimal von Aerowaves ausgewählt und mehrfach mit dem Rudolf-Lábán- und Imre-Zoltán-Preis ausgezeichnet.
ArtMenők das 2020 gegründete Jugendprogramm der Artman Association, arbeitet mit HODWORKS zusammen, um junge Menschen mit und ohne Behinderungen durch gemeinsame Themen und Entscheidungen zu verbinden. Dabei entstehen gleichberechtigt kreative und darstellerische Prozesse, die in Bewegungstheateraufführungen münden. "Idol" ist ihre zweite große Bühnenproduktion. ArtMenők fördert Inklusion durch künstlerische Zusammenarbeit.
Adrienn Hód ist eine ungarische Choreografin, die international im Bereich zeitgenössischer Tanz und experimentelle Bewegung arbeitet. Ihre Stücke, oft an der Schnittstelle von Tanz, Theater und Performance, erforschen die menschliche Körperlichkeit frei von Tabus. Hód nutzt geleitete Improvisation im Probenraum, die auf der Bühne strukturiert erscheint. 2007 gründete sie die Tanzgruppe HODWORKS mit freischaffenden Künstler_innen.